Friedrich-List-Gymnasium Reutlingen

Miteinander.  Zukunft.  Bilden.

Bis zum Ende

Von Lisa Heusel

Am Anfang merkte ich noch nicht sehr viel davon. Denn es machen viele. Es ist alltäglich und man merkt es manchmal gar nicht. Früher in der Schule war es mir noch nicht bewusst. Dort schreibt man viel und wird auch regelrecht dazu gezwungen. Wobei man hier in gewisser Weise auch von Gruppenzwang sprechen kann. 
Es fing Alles damit an, als ich Alice kennen lernte... Ich hatte endlich meinen Abschluss geschafft und Alice war eine sehr gute Freundin von mir geworden. Eines Tages kamen wir auf die Idee zusammenzuziehen, weil wir ja auch schließlich alt genug waren. Am Anfang war Alles sehr lustig, doch irgendwann wurde es zur Routine und langweilig. Es war ein Sonntag und wir lagen beide nur auf dem Sofa rum, als Alice plötzlich sagte, dass wir doch etwas schreiben könnten. Sie habe das von Anderen gehört. Die machen das auch. Zuerst zögerte ich, denn nur, weil das Andere machen, muss ich das doch nicht auch machen. Doch dann malte ich mir aus, was man damit Alles erreichen könnte: Schon manch einer wurde berühmt vom Schreiben. Also sagte ich ,,Ja!’’. Wir schrieben unsere Gedanken, Gefühle und Erlebnisse auf und es machte sogar Spaß. Es wurde zu einer Art ,,Tradition’’ sonntags zu schreiben, doch nach ein paar Monaten machten wir es auch samstags – sogar am Samstagabend. Wir unternahmen am Wochenende nichts mehr mit Freunden, sondern blieben lieber Zuhause und schrieben. Wir schrieben Alles auf was uns in den Sinn kam: Am liebsten Geschichten, die wir uns ausdachten. Nach einiger Zeit schrieben wir auch unter der Woche, immer am Feierabend, um den Tag noch richtig schön ausklingen zu lassen. Dann gingen wir aber immer seltener zur Arbeit, weil wir keine Zeit mehr dafür hatten. Wir verloren beide unseren Job. Zuerst Alice. Bei ihr war es noch extremer als bei mir: Sie konnte unglaublich schnell schreiben und war schon ganz besessen davon. Eigentlich hätten wir zu dem Zeitpunkt schon aufhören sollen, aber wir konnten nicht. Das Verlangen danach war einfach zu groß und so machten wir weiter... Es waren schon zwei Jahre vergangen und mittlerweile kommunizierten wir nur noch durch das Schreiben. Wir hatten schon seit fünf Monaten nicht mehr miteinander geredet und ich wusste kaum noch wie ihr Stimme klang. 
Aber nicht nur das, wir brachten unseren gesamten Gedankengang aufs Papier und auch wenn wir Geschichten erfanden, schrieben wir jeden einzelnen Gedanken, jede Idee auf. Wir waren süchtig nach Schreiben. Das Schreiben hatte Besitz von uns ergriffen, es war als wenn wir nicht mehr ohne das Schreiben leben konnten. Als wenn wir dadurch in einer anderen Welt sind bzw. die Welt mit anderen Augen sehen. Ich sah eine bessere Welt, eine glücklichere Welt, eine in der ich glücklich bin und eine in der ich nicht mehr ohne das Schreiben leben möchte.
Ich stand gerade auf und fing schon auf dem Weg zur Küche an zu schreiben, weil ich es nicht mehr erwarten konnte, als mir auf einmal mein Stift aus der Hand fiel. Alice lag auf dem Boden – tot... Sie musste wahrscheinlich nachts aufgestanden sein, weil sie es nicht mehr aushielt ohne das Schrieben. Sie hatte sich nicht mehr unter Kontrolle...
Es war der schlimmste Tag in meinem Leben. 875 Seiten schrieb ich an diesem Tag, da ich so viele Gedanken hatte. Ich schrieb ganze Diskussionen mit mir selbst, weil ich insgeheim wusste, dass ich aufhören sollte, doch ich schaffte es nie. ,,Arme Alice...’’, sagte ich nur und ab diesem Zeitpunkt redete ich nie wieder. Das ist jetzt fünf Jahre her und nun sitze ich hier und schreibe meine Geschichte. Meine Geschichte über mein verschriebenes Leben. Ich war einmal ein kluges Mädchen mit einem guten Abschluss. Ich hätte viel erreichen können, doch jetzt bin ein kaputter Mensch, versunken in Selbstmitleid, im tiefen Ozean, ein Wrack auf dem Grund des Meeres, das nicht mehr zu reparieren ist. Ja Das bin ich nun...

 


  |  Stand: 19.02.2018