Friedrich-List-Gymnasium Reutlingen

Miteinander.  Zukunft.  Bilden.

Ich

Von Sophia W.

"Hallo? Hallo, ist da jemand?" Meine panische Stimme hallt tausendfach von den Felswänden des Labyrinths wider. "Hilfe, kann mich jemand hören?" Nach dem Verklingen des Echos bleibt eine unheimliche Stille zurück, die nur von dem Rauschen in meinen Ohren und meinem klopfenden Herz übertönt wird. Die Felswände scheinen mich zu erdrücken. Panisch fange ich an zu rennen. Wahllos nehme ich Abzweigungen. Jeder meiner Schritte hallt wie ein Donnergrollen in den Untiefen des Labyrinths wider. Mir entfährt ein Schrei, als ich am Ende des Ganges plötzlich eine Person entdecke. Ich renne auf sie zu. "Bitte bleiben Sie stehen, helfen Sie m.." Das Wort bleibt mir im Hals stecken. Ich stehe mir selbst gegenüber, ich stehe meinem Spiegelbild gegenüber. Mein anderes Ich trägt meinen Lieblingspulli und hat sich meine Schultasche über die Schulter gehängt. Ich schaue mir entsetzt in meine eigenen Augen. Sie sehen so vertraut und so fremd aus. Mein Atem verschnellert sich und Panik und Angst übermannen mich mit voller Wucht. Starr schaue ich meine Doppelgängerin an. Mit zwei Schritten ist sie bei mir. "Ich bin ein Teil von Dir!" Ein eisiger Schauer durchfährt mich, als ich meine eigene Stimme aus ihrem Mund höre. Fassungslos stolpere ich zurück. Sie starrt mich weiter an. Ich versuche meine Atmung zu kontrollieren und schließe für einen Moment meine Augen. Als ich sie wieder öffne, ist mein anderes Ich verschwunden. Nur noch meine Schultasche steht einsam im Felsgang. Ich beginne an meinem Verstand zu zweifeln. Panisch drehe ich mich um meine eigene Achse. Die Panik übermannt mich und ich schnappe mir in purer Verzweiflung meine Schultasche und renne immer weiter in das Labyrinth. Ich renne und renne und mit jedem neuem Gang, der sich vor mir auftut, wächst meine Angst. Nach und nach verlässt mich meine Kraft und ich verlangsame meine Schritte, als ich plötzlich noch andere Schritte höre. Ich bleibe stehen, doch es ist nur Stille zu hören. Langsam drehe ich mich um, erneut entfährt mir ein Schrei. Hinter mir stehe wieder ich selbst. Ich selbst in einem Alter von sieben Jahren. Mein kleines Ich trägt meine Tanzsachen, hat meine Spitzenschuhe und meine Klaviernoten in der Hand und strahlt mich fröhlich lachend an. Ich muss verrückt geworden sein. Dennoch laufe ich - von dem Lachen angezogen - mir selbst entgegen. Aber in dem Moment, in dem ich nach meiner kleinen Hand greifen will, verblasst mein jüngeres Ich und verschwindet. Ein lachendes "Ich bin ein Teil von Dir" und meine Spitzenschuhe mit meinen Klaviernoten bleiben zurück. Ich hebe beides auf und streiche mit den Fingern über den Stoff der Schuhe. Das Klavierstück kann ich auswendig. Während die Melodie in meinem Kopf spielt, beruhigt sich mein Herzklopfen. Ich packe die Noten und die Schuhe in meine Schultasche und laufe mit festem Schritt weiter. Ich laufe und laufe, jeder Gang gleicht dem anderen. Ich komme an eine Kreuzung mit vielen Abzweigungen, als ich plötzlich eine zusammengekrümmte Person auf dem Boden entdecke. Ich renne zu ihr und schnappe erschrocken nach Luft. Das Lied ist aus meinem Kopf verschwunden. Vor mir liege ich selbst, abgemagert, mit scharfen Gesichtszügen, blasser Haut und einer Vielzahl von Kabeln und Schläuchen, die Infusionen in meinen Körper leiten.  Ich knie mich vor mich selbst und streiche mir beruhigend über die Haare. Sobald ich mein anders Ich berühre, durchzieht mich ein greller Schmerz und ich bekomme kaum noch Luft. Ich versuche einzuatmen, aber ich bekomme keine Luft in meine Lunge.  Es fühlte sich an, als läge eine unglaubliche schwere Last auf meiner Brust, die mich am Atmen hindert. Meine Atemwege sind zugeschnürt. Bei jedem noch so kleinen und verzweifelten Atemzug rasselt meine Lunge und ein Schmerz durchzieht meinen gesamten Körper. Tränen laufen meine Wangen hinab. Ich kenne dieses Gefühl. Dieses Gefühl an der Luft zu ersticken. Ich blicke mein krankes Ich hinab. Sehe meine Schmerzen, mein Leiden in meinen eigenen Augen. Verzweifelt versuche ich Luft in meine Lungen zubekommen. Es geht nicht. Mehr und mehr Tränen laufen mein Gesicht hinunter. Während ich panisch nach Luft schnappe, löst sich eine Träne von meiner Backe und fällt auf mein krankes Ich. Sofort entspannen sich die Gesichtszüge meines kranken Ichs. Es holt ein Mal tief Luft, flüstert mit leiser Stimme:"Ich bin ein Teil von Dir" und löst sich in Luft auf. Mit einem Schlag ist die Beklemmung und der Schmerz in meiner Lunge verschwunden. Ich ziehe dankbar Luft in meine Lunge, nie hatte sich Atmen so wertvoll angefühlt. Ich greife nach einem zerknitterten und von Tränen nassen Taschentuch, welches mein krankes Ich hinterlassen hatte. Trotz seines geringen Gewichts, fühlt es sich seltsam schwer und erdrückend an. Erschöpft kauere ich mich an die Felswand und meine Augen fallen wie von alleine zu....Mit einem Schlag werde ich wach. Ich habe etwas gehört. Plötzlich taucht in einem Gang mein sieben jähriges Ich auf und läuft auf die Kreuzung zu. Völlig überrascht bleibe ich mit dem Rücken an der Wand sitzen, als von der anderen Seite auch mein anderes Ich in meinem Lieblingspulli auftaucht. Nach und nach treten von allen Seiten Spiegelbilder meiner Selbst auf die Wegkreuzung. Ich erkenne mich selbst in allen möglichen Lebenslagen. Ein Ich trägt meine Pfadfinderkluft, ein anderes hat ein luftiges Sommerkleid an und wieder ein anderes trägt Sportsachen und hat einen Volleyball dabei. Einige schauen mich fröhlich an, andere traurig oder unbeteiligt. Aber alle kommen immer näher auf mich zu. Ich wache aus meiner Starre auf, als ich mich selbst mit zwei Kindern an der Hand sehe. Ich sehe älter aus, gestresst und müde, aber ich lächle meinen kleinen Kindern glücklich zu. Und plötzlich spüre ich keine Anspannung mehr. Ich erhebe mich  und gehe einige Schritte von der Wand weg. Ich stehe nun in mitten eines Pulks von meinen Ichs . Sie sind so unterschiedlich, aber trotzdem sind alle Ich. Ich schaue mich um und sehe immerzu die gleichen Augen. Egal, ob ich in die Augen meines kranken Ichs schaue, in die des Ichs, das mit meinem Hund spielt oder in die von meinem zukünftigen Ich. Es sind immer die gleichen Augen. Sie erzählen die gleiche Geschichte. Meine Geschichte. Selbst in den Augen meiner Kinder erkenne ich mich. Mich überkommt ein Gefühl der vollkommenen Zufriedenheit, ein Gefühl angekommen zu sein, ein Gefühl der Ruhe. Die Felswände verlieren ihre Bedrohlichkeit, das Labyrinth war kein Irrweg mehr, es war mein Weg. Lächelnd blicke ich mich um. Doch alle Ichs sind verschwunden. Nein, nicht verschwunden, sie sind immer noch da. Tief in mir drinnen. Immer noch lächelnd packe ich meine Pfadfinderkluft, einen Volleyball, ein Hundehalsband,eine Landkarte, ein Fotoalbum, ein Kinderschuh, eine Schwedenflagge, und so viele andere Dinge ein. Ich packe Freude, Traurigkeit, Angst, Sorge, Spaß, Beklemmung, Stress und Hoffnung ein, drehe mich nochmals auf der leeren Kreuzung um und setze meinen Weg mit festem Schritt fort. 

 


Felix Strobel  |  Stand: 22.02.2024