Friedrich-List-Gymnasium Reutlingen

Miteinander.  Zukunft.  Bilden.

Schmerz

Von David Knezevic

Würde manch einer sagen Schmerz sei vergänglich, so hat diese Person Schmerz nie wirklich erlebt. Ist es denn wirklich nur eine komplexe Sinneswahrnehmung unseres Körpers, der diese Signale durch Neuronen aufnimmt? Denn ich rede nicht von Schmerz, den Sie mal spürten, als Sie in der dritten Klasse sich das Knie aufschürften. Ich rede von Schmerz, den man spürt, wenn man von der letzten Person, die man noch hatte, verlassen wird. Verlassen von allem, was einem zu schwierigen Zeiten aufbaute und als Stütze diente. Verlassen von den Personen, die von Anfang an immer sagten, sie würden für einen immer da sein. Wo seid ihr denn jetzt? Jetzt wo man jemanden bräuchte. Eine Sache, die ich im Leben lernte, ist es nie jemandem zu trauen, sondern immer zu sich selber zu stehen, so wird dir nie wieder jemand in den Rücken fallen. Wie mir. Es ist jetzt knapp sechs Jahre her, seitdem ich aus dem Gefängnis entlassen wurde. Eingebuchtet hatten sie mich für einen Mord, den ich nie begangen hatte. Dreiundzwanzig Jahre saß ich. Achttausenddreihundertfünfundneunzig Tage. Das ist eine verdammt lange Zeit, wenn Sie mich fragen. Was hab‘ ich verloren, fragen Sie sich? Niemanden habe ich mehr. Meine Kinder habe ich seit dem Tag der Verurteilung nicht mehr gesehen und meine Frau, an der ich angeblich den „schrecklichsten Mord“ in zehn Jahren ausgeübt hatte, liegt im Bruchwälder Friedhof unter der Erde. Eine Schweinerei, wenn Sie mich fragen. Zur falschen Zeit am falschen Ort und dabei sprachen alle -und ich meine echt alle- Beweise gegen mich. Das Schlimme war nicht, dass ich an diesem Tag meine geliebte Frau verlor, sondern, dass ich an diesem Tag meinen Stolz, meine Familie, meine Freiheit, einfach alles verlor. Es passierte alles so schnell, dass ich nicht mal zu Wort kommen konnte, denn ich wurde gleich eingebuchtet. Was für eine Schweinerei. Das ist Schmerz. Jeglichen Kontakt zu meinen vermeintlichen Freunden verlor ich, und keiner wollte mir zuhören oder mir glauben. Seit diesem Tag, dem 23. April 1983, hatte ich kein Herz mehr. Klar hörte ich ein Klopfen in der linken Seite meines Brustkorbes, aber war dies wirklich mein Herz, oder nur ein Muskel, der mich leider noch am Leben hielt? Seit dem Tag der Freilassung, trinke ich. Komisch, ich war nie wirklich ein Trinker, so trank ich ab und zu ein Glas Wein zum Abendessen, aber das war’s. Es hilft die Schmerzen zu lindern, und wie es das tut. Einsamkeit ist etwas Schreckliches, das man niemandem wünscht, und so hätte ich nie gedacht, dass ein Zeitpunkt in meinem Leben, einen so drastischen Effekt auf meine Zukunft haben konnte. Untergebracht war ich in einer einsamen Zelle, wo meine Atemzüge irgendwann anfingen mit mir zu kommunizieren. Isolation und Einsamkeit. Was gibt es Schlimmeres? Außer Schmerz natürlich, aber dreiundzwanzig Jahre lang ohne wirklichen sozialen Kontakt zu „leben“, war kein Leben. Im Gegenteil, es war die reinste Hölle und das Schlimme dabei war, dass ich immer noch unschuldig war und keiner mir zuhören wollte. Oft wurde ich beim Eskortieren der Wachen in andere Räume von anderen Häftlingen schwer zusammengeschlagen und „Frauenmörder“ genannt. Seitdem wurde mir klar, dass ich nicht mehr als ein Abziehbild dessen war, was ich angeblich getan habe. Die anderen Häftlinge wussten es doch nicht besser, oder? Aber ich hielt immer meinen Mund und ließ alles über mich ergehen, als wäre ich nichts als ein Blatt Papier. Der Moment, in dem man realisiert, dass niemand einem mehr helfen kann und dass man ab jetzt auf sich alleine gestellt ist, ist in der Tat schrecklich. Oft habe ich immer noch Albträume dessen, was ich erlebt habe. Es sieht auch nicht wirklich ganz danach aus, als werden sie in nächster Zeit schwinden.
Schmerz. Schmerz mag für manche vergänglich sein, aber nicht für mich.

 


  |  Stand: 19.02.2018